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Ludwig I5ai,dass
Quattrocenteske Reminiszenzen sind hingegen in der berühmten „Tempesta“, der kleinen Land
schaft mit dem Gewitter, der Zigeunerin und dem Soldaten in der Akademie zu Venedig so gut wie
nicht mehr vorhanden. Das Neue liegt aber weniger im Maßstab der Figuren, deren volle Länge nur
mehr zwei Fünftel der Bildhöhe einnimmt (ähnliches findet sich auch bei Giovanni Bellini), als viel
mehr in der kompositionellen Einbettung der Gestalten in die Formen der Landschaft. Das Haupt
motiv der ,,Tempesta“ (Abb. 111) ist das sich im ersten Blitz entladende Gewitter. Das ist ein Thema,
das sich bisher noch kein Maler gestellt hatte. Der landschaftliche Aufbau des Bildes wiederholt den der
Parisauffindung: Im Vordergrund rechts und links in freier Symmetrie angeordnete, dunkel angelegte
und hell gehöhte Laubmassen als Eckpfeiler und eine in die Raumtiefe reichende Mitte. Statt der
quattrocentesken Weltweite des Landschaftsausblickes ist ein beschränkter Ausschnitt gegeben. Wir
sehen nicht mehr bis zum Horizont in weiter Ferne, sondern unser Blick wird zur Gänze von den Mauern
eines nahen Städtchens aufgefangen. Die additive Darstellungsart Mantegnas und Bellinis, die Giorgione
in dem frühen Bild noch übernommen hatte, ist hier stärkster Konzentration gewichen. Das Auge
braucht die Landschaft nicht mehr langsam abzulesen, sie offenbart sich auf den ersten Blick, und das
Wichtigste ist nicht die Summe ihrer Motive, sondern die Beleuchtung, die heiße Schirokkostimmung im
Mittelgrund und der dunkle Himmel, den ein gelber Blitz durchzuckt. Selbst für die Auswahl der
Motive scheint die Farbe maßgebend zu sein. So läßt sich gegenständlich die jäh abbrechende Ziegel
mauer links mit ihrem leicht vorkragenden, profilierten steinernen Gebälk und der vorgelegten, gleich
falls jäh abbrechenden Blendarkade ebensowenig erklären, wie das Mäuerchen davor mit den zwei
Säulenstümpfen. Wohl aber verstehen wir den Wunsch des Malers, am linken Bildrand das satte Grün
und das helle Gelb der Landschaft mit Grau, gelblichem Weiß und Ziegelrot zu unterbrechen. Die
Farbe wird raumbildend verwendet 21 . Wir sehen im Vordergrund das leuchtende Weiß und Krapplack
in der Tracht des Soldaten, aber im zweiten, durch grüne Pflanzensilhouetten getrennten Plan, stillere
Farben, so Creme und gedämpftes Zinnober in den geborstenen Säulen, deren Sockel und der erwähnten
Mauer. Diese Töne kehren auch in der Stadt im Hintergrund wieder.
Abermals vor ein neues Problem führt uns das große Gemälde in Wien, das von Michiel als die
„Drei Philosophen in der Landschaft“ angeführt wurde. Das kompositioneile Grundmotiv des Bild
aufbaues: Zwei Eckpfeiler links und rechts und ein Blick in die Ferne in der Mitte ist zwar das gleiche
wie bei der Auffindung des Paris (vgl. S. 165, Abb. 160) und bei der „Tempesta“, wird aber hier durch
die Verschiedenheit dieser Eckpfeiler auf besondere, ja einzigartige Weise abgewandelt. Das Bild ist
im achtzehnten Jahrhundert beschnitten worden, es war ursprünglich links um 17,5 cm breiter, und
zwar setzte sich auf dem fehlenden 'feil der Felsabhang fort 22 . In freier Symmetrie stehen ihm rechts
auf gleicher Ebene aufragende, ebenfalls vom oberen Bildrand abgeschnittene Baumstämme und
Buschwerk gegenüber. Vor diesen Bäumen auf stufenartig ausgehauenem felsigem Terrain stehen und
sitzen, leicht in die Raumtiefe hineingestaffelt, die drei verhältnismäßig großen Figuren. Sie über
schneiden einander an den Konturen, sind aber weder kompositioneil noch durch ihre Aktion mit
einander verbunden (Abb. 115). Obwohl der Felsen, das Terrain des Vordergrundes und die Häuser des
Mittelgrundes deutlich von links oben beleuchtet sind, geht am Horizont eben die Sonne unter und
erzeugt in der Ferne einen starken Beleuchtungseffekt. Die einheitliche Wirkung des Bildes wird vor
allem durch koloristische Mittel, nämlich durch das Korrespondieren der Farbtöne in Figuren und
Landschaft, erzielt 23 . Sie ist um so bewundernswerter, als beim Nabetreten der Qualitätsunterschied
in der Ausführung zwischen den sorgfältigst durchgebildeten Kleidern des sitzenden Jünglings und
den von Sebastiano viel flüchtiger hingestrichenen Gewändern der stehenden Figuren klar zu Tage tritt.
21 ) Eine raumbildende Funktion der Farbe ist schon bei großen Niederländern des fünfzehnten Jahrhunderts feststellbar, beruht
hier aber auf einem anderen Prinzip, Eie im zweiten Plan dargestellten Figuren werden in blässeren Schattierungen wie die
Gewänder der Vordergrundfiguren wiedergegeben, wie es auch Leonardo in seinem Traktat der Malerei fordert. Bei Giorgione
aber nimmt mit der Raumtiefe zwar die Intensität der Farbe zuweilen ab, aber die Farbtöne verbinden sich auch im Mittel-
und Hintergrund zu stärkerer atmosphärischer Wirkung.
22 ) Vgl. meinen in Anm. h zitierten Aufsatz.
2S ) Die in meinem in Anm. 6 zitierten Aufsatz geschilderte Abnahme der Übermalung des Bildes ist erst vollendet worden, nachdem
der Artikel umbrochen war. Dann erst erwies es sich, daß die Baumstämme der rechten Bildhälfte verbreitert und mit gleich
mäßig schwarzer Farbe übermalt waren. Das freigelegte Original zeigt bräunlich graue Stämme mit leichten Grünspuren.
Die Bäume bilden also nicht mehr dunkle Silhouetten vor dem Abendhimmel. Sie sind sichtlich von vorn beleuchtet, also vor der
Eintragung der untergehenden Sonne gemalt (vgl. Abb. 1.33 [vor] und Abb. 134 [nach der Freilegung]).