Full text: Band 15 (N.F.) (XV=51)

111. Giorgione, Tempesta, Venedig 
Das Thema wird von Michiel kurz „Geburt des Paris“ genannt, doch ist es wahrscheinlich die Wieder 
auffindung des auf dem Berge Ida ausgesetzten Parisknaben durch zwei Hirten. Die Darstellung hat 
eine bukolische Note, die durch die zeitgenössischen Kostüme der Hirten betont wird und der sich 
auch die Kleidung der Nymphe anpaßt. Wir haben eine Komposition mit zwei festen Eckpfeilern und 
freier Mitte vor uns. Auffallend ist das Kunstmittel, die Raumwirkung der Landschaft durch eine 
tiefendiagonale Staffelung der Figuren zu verstärken. Das Auge wird vom Bachufer, an dem das 
Knäblein ganz im Vordergrund liegt, allmählich von Terrainwelle zu Terrainwelle bis an den Horizont 
geleitet. Sehr geschickt ist dabei angedeutet, daß wir uns in der Nähe einer Anhöhe befinden, denn 
das Wässerchen im Vordergrund fließt ans dem Bilde heraus, hinter der ersten Terrainwelle aber gleitet 
der Blick des Beschauers in ein tiefer gelegenes Tal. Eine ähnliche Art, die landschaftlichen Motive 
klar fürs Auge zu ordnen, große Raumtiefe zu erzeugen und ihr einen weltweiten Aspekt zu verleihen, 
findet sich bereits bei Mantegna. Quattrocentesken Ursprungs ist auch die Belebung des Mittelgrundes 
durch Figurengruppen, die schildernd und erzählend und nicht bloß stimmungsbildend wiedergegeben 
waren. Zwei Elemente der Landschaftsgestaltung sind neu in Venedig, erstens die ausschnitthafte 
Wirkung, die vom oberen Bildrand überschnittene Bäume dem Ganzen verleihen, und zweitens die 
Übertragung des bukolischen Elementes der Figuren auf die landschaftlichen Motive, die nicht mehr 
bloß um ihrer pittoresken Reize willen ausgesucht (die traditionellen, zerklüfteten Felsen, ohne die 
selbst ein Mantegna nicht auskam, fehlen ganz), sondern so gewählt wurden, daß sie nicht nur dem 
Aufbau, sondern auch dem idyllischen Charakter des Bildes sich einordnen.
	        
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