111. Giorgione, Tempesta, Venedig
Das Thema wird von Michiel kurz „Geburt des Paris“ genannt, doch ist es wahrscheinlich die Wieder
auffindung des auf dem Berge Ida ausgesetzten Parisknaben durch zwei Hirten. Die Darstellung hat
eine bukolische Note, die durch die zeitgenössischen Kostüme der Hirten betont wird und der sich
auch die Kleidung der Nymphe anpaßt. Wir haben eine Komposition mit zwei festen Eckpfeilern und
freier Mitte vor uns. Auffallend ist das Kunstmittel, die Raumwirkung der Landschaft durch eine
tiefendiagonale Staffelung der Figuren zu verstärken. Das Auge wird vom Bachufer, an dem das
Knäblein ganz im Vordergrund liegt, allmählich von Terrainwelle zu Terrainwelle bis an den Horizont
geleitet. Sehr geschickt ist dabei angedeutet, daß wir uns in der Nähe einer Anhöhe befinden, denn
das Wässerchen im Vordergrund fließt ans dem Bilde heraus, hinter der ersten Terrainwelle aber gleitet
der Blick des Beschauers in ein tiefer gelegenes Tal. Eine ähnliche Art, die landschaftlichen Motive
klar fürs Auge zu ordnen, große Raumtiefe zu erzeugen und ihr einen weltweiten Aspekt zu verleihen,
findet sich bereits bei Mantegna. Quattrocentesken Ursprungs ist auch die Belebung des Mittelgrundes
durch Figurengruppen, die schildernd und erzählend und nicht bloß stimmungsbildend wiedergegeben
waren. Zwei Elemente der Landschaftsgestaltung sind neu in Venedig, erstens die ausschnitthafte
Wirkung, die vom oberen Bildrand überschnittene Bäume dem Ganzen verleihen, und zweitens die
Übertragung des bukolischen Elementes der Figuren auf die landschaftlichen Motive, die nicht mehr
bloß um ihrer pittoresken Reize willen ausgesucht (die traditionellen, zerklüfteten Felsen, ohne die
selbst ein Mantegna nicht auskam, fehlen ganz), sondern so gewählt wurden, daß sie nicht nur dem
Aufbau, sondern auch dem idyllischen Charakter des Bildes sich einordnen.