Ludwig Baldass
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107. Toinette Larcher, Kupferstich
nach Giorgione, Judith, Albertina
gebirgigen Meeresufer (Abb. 129) übt eine atmosphärische
Wirkung aus. Von dieser Neuerung wird noch die Rede sein.
Für den Gesamtaufbau des Bildes ist schließlich das Be
streben bezeichnend, dem aus Thron, Figuren und Land
schaft bestehenden Ganzen durch einen sehr hoch ge
wählten gemeinsamen Augenpunkt — er liegt etwa in der
Höhe der Knie der Madonna — eine einheitliche Perspektive
zu geben. Wir erblicken infolgedessen das Kastell ungefähr in
Augenhöhe, die Meeresfläche aber in leichter Draufsicht.
Die „Madonna von Castelfranco“ ist nicht das Werk
eines Revolutionärs wie Lorenzo Lottos „Pala in Asolo“
(Abb. 106), sondern die Schöpfung eines jungen Künstlers,
der ohne scharfe Absage an die Tradition Neuem zum
Durchbruch verhilft. Einem alten Kompositionsschema
wird hier durch Vereinfachung, Belebung und Verinner
lichung eine junge Seele eingehaucht.
B. Die stilkritisch bestimmten Bilder
Einige andere "Bilder schließen sich eng an den Stil der
„Madonna von Castelfranco“ an oder führen ihn fort. Sie
enthalten alle verhältnismäßig große ganze Figuren, die
vor eine Landschaft gestellt sind. Es sind durchwegs
Situationsbilder, auf denen keine Handlung wiedergegeben
ist. Alle sind erst im Laufe der letzten hundert Jahre als
Arbeiten des Meisters erkannt worden.
Das leider rechts und links beschnittene Gemälde in der Eremitage von Leningrad einer „Judith“
wird fast von der gesamten Literatur als Werk seiner Hand geführt. Trotz des alttestamentarischen
Gegenstandes ist es wie ein Altarbild komponiert. Die Frauenfigur zeigt nicht nur einen ähnlichen
weiblichen Kopftypus (Abb. 108) wie die „Madonna von Castelfranco“ (Abb. 109), sondern auch fast den
gleichen kleinteiligen Faltenstil. Hier findet sich ferner das gleiche Sfumato und das gleiche Sentiment.
Soweit gute Detailphotos ein Urteil gestatten, scheint auch der Pinselstrich identisch zu sein. Wieder
begegnen wir unmittelbar hinter der Figur dem Brüstungsmotiv, das die Figur des Vordergrunds von
der Landschaft des Hintergrunds trennt. Man muß die Radierung von Toinette Larcher (Abb. 107) zu
Hilfe nehmen, um die Gesamtkomposition zu würdigen. Das Mäuerchen, an das sich Judith lehnt,
gibt ihrer Gestalt einen festen Halt. Es ist von Schlingpflanzen umrankt, die auch den heute abge
schnittenen zweiten Baum rechts umwunden und sich optisch mit den Gräsern und Blumen zu Füßen
Judiths verbunden haben. So erhält bereits der Vordergrund landschaftlichen Charakter. Trotz des
Brüstungsmotivs ist also die Szene einheitlich gestaltet. Der Gegensatz, auf den es hier ankommt, ist
der von Mensch und Natur. Rechts wird das Auge von den Bäumen aufgefangen, links aber über eine
weite Ferne geleitet. In seiner Landschaftsgestaltung ist das Gemälde ein Zwischenglied zwischen der
„Madonna von Castelfranco“ und den profanen Bildern mit kleinfigurigen Darstellungen in der
Landschaft.
Die „thronende Madonna mit dem heiligen Antonius und Rochus“ im Prado zu Madrid, ein sichtlich
unvollendetes Gemälde, ist von Morelli als Arbeit Giorgiones erkannt worden, wird aber von einigen
Forschern Tizian zugeschrieben. Eine breite stufenartige Brüstung trennt hier die Figuren von der
angedeuteten Landschaft. Die direkte Ableitung der Komposition von dem Altarbild in Castelfranco
(Abb. 105) ist unverkennbar. Das wohl vom Auftraggeber geforderte Breitformat erschwerte es dem
Künstler, das Übergewicht zu bewahren, das auf dem früheren Hochbild die Madonna über die beiden
Assistenzfiguren besitzt. Giorgione half sich durch die weite Fläche des trennenden grünen Vorhangs
hinter dem weißen Baldachin, durch den Mangel an Überschneidungen und mehr noch durch die
psychische Isolierung der einzelnen Gestalten. Von den Figuren blickt allein das Jesuskind aufmerksam
zum Himmel empor. Die in Rot und Grün gekleidete Mutter Gottes (Abb. 110) und der heilige Antonius