Die Tat des Giorgione
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mit seinen grauen und rosafarbenen Tönen, den reich und liebevoll ausgeführten Locken und der
ungemein sicher wiedergegebenen Pfeilbefiederung einerseits und einzelnen Gewandpartien andrerseits
bemerkbar. Im kirschroten Überwurf ist ein Pentiment erkennbar, das in der Röntgenaufnahme deutlich
sichtbar wird: eine für die Bildwirkung der ersten Planung wesentliche Falte lief früher von der rechten
Schulter des Knaben quer über die Brust bis zur Mitte des unteren Bildrandes. Besondere Schwächen
der Ausführung sind in der Brustpartie des Hemdes, deren Fältelung schematisch, ja roh genannt
werden muß, und in dem derbfaltigen Teil des roten Überwurfs, der zur linken Schulter des Knaben
führt, bemerkbar. Diese Partien, deren mangelnde Qualität den Gesamteindruck stört, sind offensichtlich
die Arbeit eines kleinen Malers, der kein Vorbild vor Augen hatte und die vom Meister nur angelegten
Partien aus eigenem zu vollenden unternahm. Die nicht ganz vollendete Hand hingegen ist wenigstens
der Anlage nach eine Schöpfung des Entwerfers. Die künstlerische Diskrepanz zwischen dem Kopf
und einzelnen Gewandpartien schließt es aus, daß wir hier nur die Replik eines verschollenen Urbildes
vor uns haben. Daß der Entwerfer des Bildes und der Vollender der Kopfpartie aber Giorgione war,
scheint mir ein Vergleich mit dem Antlitz der „Madonna von Castelfranco“ und ebenso mit dem Antlitz
der „Judith“ in Leningrad (Abb. 108, 109) darzulegen. Aber auch die Gesichter der „Drei Philosophen“
(Abb. 112) sind aus dem gleichen Geist geboren. Die Fältelung des Ärmels erinnert schließlich gleichfalls
an die Gewandbehandlung der Judithfigur. Das sehr kühl gemalte, stark leonardesk wirkende Antlitz
des „Knaben mit dem Pfeil“ zeigt bereits jene stärkere plastische Rundung, die wir von dem
„Fondaco-Fragment“ kennen. Wir haben also eine Arbeit der letzten Lebensjahre vor uns.
Stilistisch verwandt ist der „Knabe mit der Flöte“, der dem gleichen von Michiel auch in dritter
Variante erwähnten Bildtypus angehört 16a . Leider ist im Gesicht des Bildes in Hampton Court die ur
sprüngliche Farbe nicht mehr erkennbar. Es ist völlig übermalt. Die fest zugreifende Hand aber ist sehr
qualitätvoll, auch bei der Wiedergabe des Hemdes fällt der sichere Strich auf. Vor Abgabe eines end
gültigen Urteils ist die Abdeckung der Übermalungen abzuwarten.
Die Budapester Galerie besitzt unter dem Namen Dosso Dossi, mit dessen Malstil das Werk nur
allgemeine Stilähnlichkeit zeigt, die anscheinend gleichfalls nicht tadellos erhaltene Skizze (Abb. 104)
zu dem erwähnten „Selbstbildnis“ als David (Abb. 103). Das aus Wiener kaiserlichem Besitz stammende
Bild ist die älteste ein ausgeführtes Bildnis vorbereitende gemalte Skizze, die wir kennen. Sie galt
schon 1659 in der Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm als Original von Giorgione. Vom Braun
schweiger Bild unterscheidet es sich erstens durch die einfachere Haltung, die die Schulter noch kaum
herausdreht, zweitens durch das zeitgenössische Kostüm 17 , drittens durch die flüchtigere skizzenhafte
Behandlung der Gewandung. Alle diese drei Punkte sprechen für die frühere Entstehung des Budapester
Bildes. Die Skizze ist nach dem lebenden Modell gemacht. Der am Beschauer vorbeisehende Blick
spricht aber nicht gerade für ein Selbstporträt, so daß ein diesbezüglicher Irrtum Vasaris wohl denkbar
wäre.
Noch hatte der Künstler den eigentlichen Kompositionsgedanken mit der scharfen Wendung
des Kopfes und dem kühnen Herausdrehen der Schulter, wie ihn der Stich Hollars deutlich zeigt, nicht
gefaßt. Während wir bei dem Braunschweiger Bild mit der Möglichkeit einer Replik rechnen müssen,
ist die Wahrscheinlichkeit, daß jemand die erste Skizze kopiert hätte, erheblich geringer. Wo der
Pinselstrich des Malers sichtbar wird, im Gesicht, an der Braue, dem unteren Augenlid, am Nasenflügel,
an der Mundspalte und vor allem an der Hemdpartie, zeigt er den sicheren, breiten, schnellen, kurven
reichen Strich der „Laura“.
Die Stilableitung dieser neuen Porträtkunst gewährt uns ein weiteres, nur wenig früher entstandenes
Bild. Das stark verwetzte, aber farbig reizvolle Jünglingsporträt in Berlin ist so gut wie allgemein
anerkannt. Der Künstler schließt im Bildausschnitt an Bellinis „Porträt des Dogen Loredan“ (London)
16a ) Der im Typus mit dem Knaben mit der Flöte fast identische, stark beschnittene David mit dem Haupt des Goliath
der Wiener Galerie ist im heutigen Zustand kaum beurteilbar. J. Wilde teilte es im Wiener Katalog von 1938 einem
Nachfolger zu. — Bei dem kleinen flötenspielenden Faun in München fiel mir bei meinem letzten Aufenthalt die große
Ähnlichkeit der Landschaftsbehandlung mit der der sacra conversazione von Palma vecchio in derselben Sammlung auf. Ich
muß also älteren Münchner Katalogen folgend vor Jahren Gesagtes (Jahrbuch N. F. III. 1929, S. 100) wiederholen. Ich gebe
hingegen jetzt J. Wilde recht, daß das Liebespaar (Abb. Jahrbuch, N. F. VII, Abb. 89) nicht von Palma, sondern von dem
Maler des ländlichen Konzertes in Bowood Park (bzw. Ardencraig) herrührt.
”) Schon deshalb kann das Budapester Bild keine Replik des Braunschweigers sein, wie G. Gronau a, a. O. annahm.
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Jahrbuch 51