Full text: Band 15 (N.F.) (XV=51)

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Lüdwig Baldass 
Obwohl auch in Venedig der Mensch noch das wichtigste Darstellungsobjekt ist, wird er allein um 
seiner selbst willen nur im Porträt wiedergegeben. Die Umwelt (Innenraum, Architekturkulisse oder 
Landschaft) wird stets mit nicht geringerer Liebe und Sorgfalt behandelt wie er selbst. Die Darstellung 
des Raumes ist nicht mehr ein haptisches, sondern ein optisches Problem. Körperform und Raumbild 
stehen gleichberechtigt nebeneinander. Besonders die Landschaft steht von Anfang an im Vordergrund 
des Interesses. In der ersten Jahrhunderthälfte (vor dem Auftreten Bruegels also) übertrifft die vene 
zianische Landschaftsmalerei, obwohl oder weil sie nicht spezialisiert ist, an Kraft und Wahrheit der 
Nattirwiedergabe weitaus die additive Landschaftswiedergabe der Niederländer. 
Der Einfluß der venezianischen Maltechnik auf die großen europäischen Maler des siebzehnten 
Jahrhunderts war enorm. Er tritt sogar dort zutage, wo die beeinflußten Künstler (man denke vor allem 
an Rubens) bei ihrer traditionell überkommenen technischen Bilddurchführung verblieben (bzw. zu 
ihr zurückkehrten) nnd sich daher weiter des weißen Kreidegrunds als gelegentlich durchscheinender 
Folie und in hohem Maße der Lasurfarben bedienten, dabei aber die Sichtbarkeit des Pinselstrichs 
von den Venezianern übernahmen. Ein direktes oder indirektes Einwirken der venezianischen Cinque 
centomalerei finden wir nicht nur bei den großen holländischen und spanischen Meistern, die auch dann 
von einer naturalistischen Wiedergabe der sichtbaren Welt ausgingen, wenn sie letzten Endes die 
unnaturalistische Gestaltung übernatürlicher Erscheinungen anstrebten, sondern auch bei Nicolas 
Poussin, dessen Stil ganz auf der stilisierten Form der klassischen Kunst beruhte, der sich aber doch 
dem Zauber venezianischer Farbwirkungen und venezianischer Art zu malen willig unterwarf. 
In der Führung der abendländischen Malerei hat die venezianische Kunst im Cinquecento das Erbe 
der altniederländischen Malerei angetreten. Das deutlich erkennbare Bindeglied war die Kunst des 
Antonello da Messina. Dieser Sizilianer, der als einziger Italiener die altniederländische Maltechnik 
sich angeeignet hatte, war auffallenderweise (von rein lokalen Gefolgsleuten abgesehen) nur in Venedig 
schulbildend. Sein Aufenthalt in dieser Stadt ist von nachhaltender Bedeutung für die venezianische 
Malerei, die durch ihn in andere Bahnen gelenkt wird. Für dieses Ereignis war es entscheidend, daß 
Antoneilos bedeutendster venezianischer Zeitgenosse Giovanni Bellini Antonellos Umgestaltung des 
altniederländischen Malvorgangs im wesentlichen übernahm, damit die Farbe nicht bloß zu einem 
schmückenden, sondern zu einem charakterisierenden Element der Bildgestaltung machte und so die 
Basis für die neuen Taten des sechzehnten Jahrhunderts schuf. 
Aber erst einem Maler der Generation, die um 1500 zu malen begonnen hat, war es beschieden, die 
entscheidenden Schritte zur neuen Freiheit der Gestaltung zu tun: Giorgione. Nur ein Jahrzehnt des 
neuen Jahrhunderts zu durchleben war ihm bestimmt. Dennoch ist in seinen Werken schon alles ent 
halten, was den Ruhm der gesamten venezianischen Cinquecentomalerei ausmacht. Es stellt sich daher 
die Krage, in welcher Weise hebt sich die Kunst Giorgiones von der seiner Vorläufer und Mitstrebenden 
ab, und auf welchem Wege ist er dazugekommen, etwas grundsätzlich Neues zu schaffen? 
II. DIE QUELLEN 
Die Art der Kunst Giorgiones 1 brachte es mit sich, daß er seine meisten Werke nicht für öffent 
lichen, sondern für privaten Besitz geschaffen hat. Sie blieben daherweniger zugänglich als die Schöpfungen 
der Maler großer Altarbilder. Der frühe Ruhm des jungverstorbenen Meisters führte daher schon um 
die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zu einer Legendenbildung, die in der ersten Auflage der Bio 
graphie Vasaris einen Niederschlag fand. 
Unsere Kenntnis der Kunst Giorgiones beruht auf einer kleinen Zahl durch alte Nachrichten gut 
beglaubigter Werke 2 . Soweit diese Gemälde klar identifizierbar sind, geben sie das deutliche Bild einer 
im ersten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts in Venedig schaffenden Persönlichkeit, die in der 
*) Der Aufsatz war Monate vor der am 11. 6. 1958 erfolgten Eröffnung der Mostra: „Giorgione e i Giorgioneschi“ der 
Schriftleitung des Jahrbuchs abgeliefert worden. Nach Besuch der Ausstellung habe ich wenige kurze Absätze einzelnen 
Anmerkungen beigefügt (vgl. Anm. 2, 16a, 26). 
2 ) Die Giorgioneausstellung in Venedig hat, wie immer man sich zu den einzelnen Ergebnissen stellen mag, die Gefahren 
zahlreicher autoritärer Neuzuschreibungen klar vor Augen geführt und die Notwendigkeit dieses Versuchs, die Erkennt 
nis von Wesen und Umfang der künstlerischen Persönlichkeit Giorgiones vorzubereiten, erwiesen.
	        
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