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Lüdwig Baldass
Obwohl auch in Venedig der Mensch noch das wichtigste Darstellungsobjekt ist, wird er allein um
seiner selbst willen nur im Porträt wiedergegeben. Die Umwelt (Innenraum, Architekturkulisse oder
Landschaft) wird stets mit nicht geringerer Liebe und Sorgfalt behandelt wie er selbst. Die Darstellung
des Raumes ist nicht mehr ein haptisches, sondern ein optisches Problem. Körperform und Raumbild
stehen gleichberechtigt nebeneinander. Besonders die Landschaft steht von Anfang an im Vordergrund
des Interesses. In der ersten Jahrhunderthälfte (vor dem Auftreten Bruegels also) übertrifft die vene
zianische Landschaftsmalerei, obwohl oder weil sie nicht spezialisiert ist, an Kraft und Wahrheit der
Nattirwiedergabe weitaus die additive Landschaftswiedergabe der Niederländer.
Der Einfluß der venezianischen Maltechnik auf die großen europäischen Maler des siebzehnten
Jahrhunderts war enorm. Er tritt sogar dort zutage, wo die beeinflußten Künstler (man denke vor allem
an Rubens) bei ihrer traditionell überkommenen technischen Bilddurchführung verblieben (bzw. zu
ihr zurückkehrten) nnd sich daher weiter des weißen Kreidegrunds als gelegentlich durchscheinender
Folie und in hohem Maße der Lasurfarben bedienten, dabei aber die Sichtbarkeit des Pinselstrichs
von den Venezianern übernahmen. Ein direktes oder indirektes Einwirken der venezianischen Cinque
centomalerei finden wir nicht nur bei den großen holländischen und spanischen Meistern, die auch dann
von einer naturalistischen Wiedergabe der sichtbaren Welt ausgingen, wenn sie letzten Endes die
unnaturalistische Gestaltung übernatürlicher Erscheinungen anstrebten, sondern auch bei Nicolas
Poussin, dessen Stil ganz auf der stilisierten Form der klassischen Kunst beruhte, der sich aber doch
dem Zauber venezianischer Farbwirkungen und venezianischer Art zu malen willig unterwarf.
In der Führung der abendländischen Malerei hat die venezianische Kunst im Cinquecento das Erbe
der altniederländischen Malerei angetreten. Das deutlich erkennbare Bindeglied war die Kunst des
Antonello da Messina. Dieser Sizilianer, der als einziger Italiener die altniederländische Maltechnik
sich angeeignet hatte, war auffallenderweise (von rein lokalen Gefolgsleuten abgesehen) nur in Venedig
schulbildend. Sein Aufenthalt in dieser Stadt ist von nachhaltender Bedeutung für die venezianische
Malerei, die durch ihn in andere Bahnen gelenkt wird. Für dieses Ereignis war es entscheidend, daß
Antoneilos bedeutendster venezianischer Zeitgenosse Giovanni Bellini Antonellos Umgestaltung des
altniederländischen Malvorgangs im wesentlichen übernahm, damit die Farbe nicht bloß zu einem
schmückenden, sondern zu einem charakterisierenden Element der Bildgestaltung machte und so die
Basis für die neuen Taten des sechzehnten Jahrhunderts schuf.
Aber erst einem Maler der Generation, die um 1500 zu malen begonnen hat, war es beschieden, die
entscheidenden Schritte zur neuen Freiheit der Gestaltung zu tun: Giorgione. Nur ein Jahrzehnt des
neuen Jahrhunderts zu durchleben war ihm bestimmt. Dennoch ist in seinen Werken schon alles ent
halten, was den Ruhm der gesamten venezianischen Cinquecentomalerei ausmacht. Es stellt sich daher
die Krage, in welcher Weise hebt sich die Kunst Giorgiones von der seiner Vorläufer und Mitstrebenden
ab, und auf welchem Wege ist er dazugekommen, etwas grundsätzlich Neues zu schaffen?
II. DIE QUELLEN
Die Art der Kunst Giorgiones 1 brachte es mit sich, daß er seine meisten Werke nicht für öffent
lichen, sondern für privaten Besitz geschaffen hat. Sie blieben daherweniger zugänglich als die Schöpfungen
der Maler großer Altarbilder. Der frühe Ruhm des jungverstorbenen Meisters führte daher schon um
die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zu einer Legendenbildung, die in der ersten Auflage der Bio
graphie Vasaris einen Niederschlag fand.
Unsere Kenntnis der Kunst Giorgiones beruht auf einer kleinen Zahl durch alte Nachrichten gut
beglaubigter Werke 2 . Soweit diese Gemälde klar identifizierbar sind, geben sie das deutliche Bild einer
im ersten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts in Venedig schaffenden Persönlichkeit, die in der
*) Der Aufsatz war Monate vor der am 11. 6. 1958 erfolgten Eröffnung der Mostra: „Giorgione e i Giorgioneschi“ der
Schriftleitung des Jahrbuchs abgeliefert worden. Nach Besuch der Ausstellung habe ich wenige kurze Absätze einzelnen
Anmerkungen beigefügt (vgl. Anm. 2, 16a, 26).
2 ) Die Giorgioneausstellung in Venedig hat, wie immer man sich zu den einzelnen Ergebnissen stellen mag, die Gefahren
zahlreicher autoritärer Neuzuschreibungen klar vor Augen geführt und die Notwendigkeit dieses Versuchs, die Erkennt
nis von Wesen und Umfang der künstlerischen Persönlichkeit Giorgiones vorzubereiten, erwiesen.