Johannes Wilde.
heben würde, erscheint aus räumlich-plastischen wie auch aus Gründen der Farbkomposition als unbe
dingtes Desideratum.
Jan Lauts hat in seiner vor zwei Jahren in diesem Jahrbuch erschienenen Monographie die unter
Antonellos Namen bekannten Bildnisse sorgfältig gesichtet und —- wie wir glauben, mit Recht — neun
unter ihnen als sichere Werke anerkannt. Auch die von Lauts aufgestellte zeitliche Folge scheint uns
richtig. Seine frühe Gruppe, die in dem 1474 datierten Berliner Porträt gipfelt, liegt zweifellos vor
unserem Bild. Dieses zeigt die reife Kunst Antonellos, die des Londoner Bildnisses, des 1475 datierten
»Condottiere« im Louvre und des Porträts in der Borghese-Galerie. Antonello, bei dem trotz der von
Anfang an wirkenden Grundtendenz nach dem Stereometrisch-Klaren früher noch Elemente eines spät
gotisch-additiven Naturalismus aufzufinden sind, erreicht in diesen Werken sein klassisches Ideal. In der
Reihe der größeren Kompositionen bezeichnet das Hauptwerk seines Aufenthaltes in Venedig, die Pala di
San Cassiano, denselben Höhepunkt. Wir finden in dem Altarbilde dieselbe Geschlossenheit des Aufbaus
und in seinem erhaltenen Mittelfragment die gleiche lapidare Einfachheit, strenge Abrundung und Klarheit
der Formen, wie in dem Wiener Jünglingsbildnis.
Es besteht vielleicht die Möglichkeit, das Bild und damit den Dargestellten zu identifizieren. Der
Anonimo Morelliano verzeichnet am 5. Jänner 1532 »in casa di M. Antonio Pasqualino«, also bei demselben
Kunstfreund, in dessen Besitz er 1529 Antonellos Hieronymus im Gehäuse sah, auch zwei Bildnisse des
Künstlers: 2 »Le due teste in do tauolette minori del naturale deli ritratti, luna de M. Aluise Pasqualino
padre de M. Antonio, senza capuzzo in testa, ma cun quello negro sopra la spalla, et la uesta di scarlato;
laltro de M. Michiel Vianello vestito de rosato cun el capuzzo negro in testa, furono de man [de] Antonello
da Messina, fatti ambedoi l’anno 1475, come appar per la sottocriptione.« Die Beschreibung des ersten
Porträts — der Dargestellte unbedeckten Hauptes, in scharlachrotem Gewand, mit schwarzem Überwurf
auf der Schulter — würde gut zu unserem Bilde passen, ebenso wie das Entstehungsjahr 1475 zu dessen
Stil. Es ist das einzige erhaltene Bildnis Antonellos, in welchem der Dargestellte keine Mütze trägt, die
Kleidungsstücke und deren Farben stimmen ebenfalls, und die Pala di San Cassiano, mit der wir das
Porträt verglichen haben, ist im August 1475 begonnen worden. Um freilich von der Möglichkeit zu einer
gestützten Annahme schreiten zu können, wäre die Kenntnis des Geburtsjahres des genannten Alvise
Pasqualino notwendig. 3
»Sono a olio in uno ochio et mezo, molto finidi, et hanno gran forza et gran vivacitâ, et masime in
li occhii«, so schließt der Anonimo Morelliano seine Beschreibung. Ob er nun auch unser Bild vor Augen
hatte, oder zwei andere, seine Charakteristik gilt allgemein von der reifen Bildniskunst Antonellos. Statt
des früheren archaischen Lächelns zeigen die Dargestellten in den Werken um 1475 selbstbewußten Ernst,
der ihrem Gesicht unerschütterliche Ruhe aufzwingt, geistig äquivalent der klassischen Formklarheit. Diese
Ruhe gewinnt, ohne aufgehoben zu werden, Leben von der durchdringenden Kraft des Blickes. Bei dem
Wiener Jüngling ist diese Kontrastwirkung auf das höchste gesteigert: nur die Augen sind der Profil
stellung entgegengesetzt, sie schauen an dem Betrachter vorbei, der Kopf bleibt unbewegt.
2 Der Anonimo Morelliano (ed. Frimmel), S. 80.
3 Die Notiz über das zweite Porträt bei Antonio Pasqualino bezog Cavalcaselle (Gesch. d. ital. Malerei VI, in) auf das
Bild der Borghesegalerie. Auch für diesen Versuch einer Identifizierung gilt das gleiche.
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