Die weltliche Schatzkammer in Wien.
dings auf Seite 151 folgendes: »Daß in Wirklichkeit das
figurale Muster an dem vorliegenden drap d’or immer ab
wechselte und möglicherweise die eben beschriebenen
bildlichen Darstellungen nur Bruchstücke eines größeren
Kreises von eingewirkten Darstellungen waren, erhellt
schon aus einem dritten Bildwerk mit anderen figür
lichen Abbildungen, das wir ziemlich deutlich bei nur
spärlicher Auftrennung der Nähte wahrnehmen konnten.
Es lohnte sich in der Tat der Mühe, bei einer späteren
Wiederherstellung des Kaisermantels, die nicht ausbleiben
kann, jenen schmalen Futterstreifen, zu dessen Beschrei
bung und Abbildung wir im folgenden übergehen
werden (es ist der oben besprochene italienische Damast vom Ende des 15. Jahrh.), völlig loszutrennen, um
das in Rede stehende drap d’or-Gewebe in seiner Ganzheit überschauen und in seiner figuralen Mannig
faltigkeit abzeichnen zu können. Durch diese vorübergehende Lostrennung der heute verdeckenden Überlage
eines vielfarbig gemusterten Damastgewebes des 15. Jahrhunderts würde für die Kunst- und Altertums
forschung auf dem Gebiete der mittelalterlichen Seidenweberei ein figuriertes Goldgewebe gewonnen, das
in kunsthistorischer Beziehung gegenwärtig in Europa fast vereinzelt dasteht.«
Bock hat also, wie aus dieser Stelle hervorgeht, nicht den ganzen alten Stoffstreifen gesehen, er dachte
auch, obwohl ihm am Rande des von ihm bloßgelegten Stückes ein neues Muster auffiel, nicht daran, daß
noch ein neuer Stoff versteckt sein könnte. In dieser Meinung wurde er möglicherweise darin bestärkt, daß
er, als er den Damast aus dem 15. Jahrhundert auch am anderen Ende des Manteldurchmessers abdeckte,
auch dort dasselbe Muster nochmals fand. Jedenfalls zeigt die farbige Lithographie, die Kaiser Karl V. im
vollen Ornat darstellt (unnumerierte Tafel vor Tafel I) den von ihm auf Tafel XXVIII abgebildeten mittel
alterlichen Futterstoff viel höher hinaufreichend, als dies tatsächlich der Fall ist.
Der Mantel wurde offenbar in Wien, vermutlich unter Leitner restauriert, er wurde hinten, unterhalb
des italienischen Damastes längs des Diameters, zur Gänze mit einem grünen Seidenrips, unter dem noch der
von Bock auf Tafel XXVII publizierte sizilianische Seidenstoff erhalten ist, überzogen und über diesen
wurden in einem Gitterwerk Gurten genäht, auf die sich die nicht unbeträchtliche Last des an Ringen, die
längs des Durchmessers angebracht sind, hängenden Mantels gut verteilt. Aber weder bei dieser Restauration
noch später, als für Kumsch offenbar wieder ein Stück der mittelalterlichen subductura freigelegt wurde, ist
das geschehen, was Bock schon 1864 verlangt hat.
Von den noch lebenden Wiener Kunsthistorikern hatte meines Wissens vor dem Mai 1924 niemand
auch nur den von Bock publizierten Stoff im Original gesehen. Man wird es begreiflich finden, daß der
Schreiber dieser Zeilen vor Begier darauf brannte, diesen Stoff kennen zu lernen, und zwar nicht bloß aus
Wissensdrang, sondern auch aus der Sorge jemandes heraus, der die Verantwortung für unersetzliche Werte
trägt. Da ich den Bockischen Stoff nie mit eigenen Augen gesehen hatte, so wußte ich ja nicht einmal, ob
er überhaupt noch vorhanden war.
Daß ich verhältnismäßig lange zögerte, den Damaststreifen abtrennen zu lassen, hängt wieder damit
zusammen, daß die überaus heikle Arbeit (man denke bloß an die Tausende von Perlchen an der Vorderseite
des Mantels, die großenteils an altersmorschen Seidenfäden sitzen und von denen selbst bei der vorsichtigsten
Berührung des Mantels leicht eines oder das andere herunterfällt) erst vorgenommen werden konnte, als die
Gobelinrestaurierwerkstätte aus dem Mobiliendepot in der Mariahilferstraße in unser Haus auf dem Burgring
übersiedelt war und mir deren ebenso verläßliche wie geschickte und in derlei Tun erfahrene Frauenhände, wenn
ich ihrer bedurfte, zur Verfügung standen. Die Schatzkammer, in der im Winter weder geheizt noch photographiert
werden kann, ist erst vom Frühjahr an für größere Arbeiten zugänglich. Im Mai des vergangenen Jahres wurden
all die Untersuchungen, auf denen die hier mitgeteilten wissenschaftlichen Ergebnisse zum größten Teil beruhen,
vorgenommen, und ich fühle mich besonders verpflichtet, Frau Herminc Breicha, der Leiterin der Gobelin
restaurierwerkstätte, und ihren erprobten Gehilfinnen, die alle ihnen aufgetragenen schwierigen und verant
wortungsvollen Arbeiten am Mantel aufs gewissenhafteste und pünktlichste ausführten, auch hier herzlichst zu
danken. Die ganze zeitraubende und mühevolle Arbeit nicht nur am Mantel, sondern auch an den übrigen
Abb. 29. Schema für die Verteilung der alten Futterstoffe
des Kaisermantels.
9 Jahrbuch N. F. I.
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